Alzheimer-Journalismus ‒ Die Leitmedien und die Flüchtlings-Fachkräfte
Markus Gärtner
Im deutschen Blätterwald dreht sich seit Tagen kräftig der Wind. Das Willkommens-Spektakel im Flüchtlings-Herbst 2015 wird jetzt selbst denen, die monatelang für unbegrenztes Asyl getrommelt haben, zu viel. Das gilt für die Politik, wie für die Massenmedien.

Noch im Juni hatten Andrea Nahles und Frank-Walter Steinmeier gefordert, »in Flüchtlingen Fachkräfte für Deutschlands Zukunft zu sehen«. Die FAZ berichtete am 19. Juni wie fast alle großen Zeitungen und Rundfunkanstalten brav über diesen Unsinn. Am 25. Juni legte dasWirtschaftsblatt nach: »Fachkräfte sind gesucht – Flüchtlinge kommen«, beschrieb das Leitmedium der Wirtschaftsjournalisten die wunderbare Ehe aus Flüchtlings-Angebot und unerfüllter Job-Nachfrage. Die Welt beschrieb noch im September, »Wie aus Flüchtlingen deutsche Handwerker werden«.
»Das Risiko negativer Folgen für den Arbeitsmarkt«, so die konservative »Qualitätszeitung«, sei »gering«. Und noch Mitte September überschlugen sich die tonangebenden Medien damit, Daimler-Chef Dieter Zetsche mit seiner windig-populistischen Aussage wiederzugeben, die Flüchtlinge könnten das nächste »Wirtschaftswunder« auslösen.
Und jetzt?
Nur wenige Wochen nach der Fachkräfte-Arie schauen sich alle im abdankenden Medien-Universum entgeistert gegenseitig an und können es nicht begreifen, was sie da über Monate hinweg von sich gegeben haben, um im großen inszenierten Willkommens-Chor ganz vorne mitzusingen.
Die »Arbeitslosigkeit wird wegen Flüchtlingen steigen«, schenkt uns das Hamburger Abendblattam 30. September plötzlich reinen Wein ein.
Mich erinnert das an ein Gespräch, das ich im Juli mit einer Frau führte, die im Auftrag der Caritas in einer großen deutschen Autostadt schon 1000 Asylsucher betreut hat. Für jeden führt sie eine Karteikarte. In den 1000 Karten finden sich nach ihren Angaben lediglich drei »Klienten«, wie sie die ihr anvertrauten Menschen nennt, die einen Hochschulabschluss nachweisen können. 80 bis 90 Prozent, sagt sie, haben nicht einmal einen beruflichen Abschluss.
Was jeder Asylbetreuer weiß, sich aber in dem laufenden Meinungsterror nicht zu sagen traut – und die Massenmedien lange Zeit verschwiegen haben – kommt jetzt plötzlich ans Licht, weil es sich nicht länger unterdrücken lässt: »Vielen Flüchtlingen droht Arbeitslosigkeit«, titelt nun die FAZ. Der Zusatz im Text dieses Artikels vom 17.9. lautet »Immer mehr Geringqualifizierte strömen nach Deutschland.«
Auch der Spiegel ist aufgewacht: »Nahles erwartet mehr Arbeitslose«, lässt das Magazin nun die Katze aus dem Sack. Die vielen Fachkräfte erweisen sich »plötzlich« als nicht vermittelbar.
Simple Anrufe der Mainstream-Journalisten bei diversen Flüchtlings-Organisationen oder Arbeitsvermittlern hätten die Wahrheit vor Monaten schon ans Licht bringen können. Aber das war unerwünscht, weil es nicht zur Leitmusik der Willkommenskultur gepasst hätte. Es wurde aus Korrektheit unterdrückt.
Die Leitmedien, die sich immer öfter als Schoßhund des Berliner Parteien-Kartells outen, anstatt als Wachhund ihres Publikums, wollten keine kritischen Stimmen und nichts in den Berichten, was die Deutschen verunsichert hätte. Erziehung statt Informationsauftrag. Das war die Devise in diesem Sommer und Herbst. Auch die Zeit muss sich dieses peinlich späte Erwachen vorhalten lassen.
Ich habe in meinem neuen Buch dem kollektiven Medienverhalten, das ich hier beschrieben habe, einen ganzen Abschnitt im Kapitel über die vielen Gesichter der Lügenpresse gewidmet. Der
Abschnitt heißt: Was schert mich das Gewäsch von gestern

Hier der Textauszug aus dem Buch:
»Nicht einmal das kollektive Gedächtnis der Leitmedien scheint richtig zu funktionieren. Siehe Dezember 2014. Nur wenige Stunden nachdem am 29. des Monats die Präsidentenwahl in Athen gescheitert war, drehte der Internationale Währungsfonds (IWF) die Geldzufuhr an das Land ab. Der IWF gab die Aussetzung seiner Notkredite bis zur Bildung einer neuen Regierung in Athen bekannt.Den ›Pleite-Griechen‹, wie die Bild sie seit Jahren so gerne nennt, wurde finanziell das Messer auf die Brust gesetzt. Bei der anstehenden Wahl sollten die renitenten Südländer gefälligst ›richtig‹ wählen. Dass der IWF dem Land den Hahn abdrehte, begründete IWF-Sprecher Gerry Rice – wie überall im Mainstream-Blätterwald berichtet ‒ so: Griechenland habe ›keinen unmittelbaren Finanzierungbedarf‹. Aha, die brauchten kein frisches Geld.Das war mehr als komisch: Denn nur vier Wochen zuvor hatte der Spiegel über Griechenland das genaue Gegenteil berichtet: ›Spitzenbeamte aus den Mitgliedstaaten der Eurozone haben sich nach Informationen des Spiegel Ende vergangener Woche bei einem Treffen in Brüssel weitgehend auf ein drittes Hilfsprogramm für Griechenland geeinigt. Nach den Überlegungen soll die griechische Regierung im Rahmen sogenannter vorbeugender Finanzhilfen rund zehn Milliarden Euro vom europäischen Rettungsschirm ESM zur Verfügung gestellt bekommen.‹Von wegen ›kein unmittelbarer Finanzierungsbedarf!‹ Das Finanzloch war größer denn je. Nur Tage bevor der IWF-Sprecher Gerry Rice diese unsägliche Lüge überall in den Massenmedien verbreiten durfte, hatten dieselben Medien – basierend auf einem Bloomberg-Bericht – ebenso wie der Spiegel – das genaue Gegenteil geschrieben. Laut Bloomberg sollte Griechenland einen neuen Milliardenkredit zur Überbrückung bekommen. Das Land sei sogar ausdrücklich bereit, den IWF einzubeziehen.Dass ein und dasselbe Land binnen vier Wochen einmal angeblich einen Überbrückungskredit von zehn Milliarden Euro braucht um nicht zu implodieren, und dann plötzlich ›keinen unmittelbaren Finanzierungsbedarf‹ haben soll, das fiel im deutschen Blätterwald niemandem weiter auf. Dieser schreiende Widerspruch ging in der Kanonade der übrigen Nachrichten völlig unter. Wie wir inzwischen alle wissen, wurde ein halbes Jahr später über ein drittes Hilfspaket mit einem Umfang von 86 Milliarden Euro verhandelt.Übrigens: Wenige Wochen nachdem dieser kaum übersehbare Widerspruch in den Leitmedien schlicht ignoriert – oder nicht erkannt – wurde, meldete die Nachrichtenagentur Reuters unter Bezugnahme auf Spaniens Wirtschaftsminister Luis de Guindos , dass die Eurogruppe bereits Gespräche über ein drittes Hilfspaket für Hellas mit einem Umfang von 30 bis 50 Milliarden Euro führe.Welchen Eindruck sollte ein fleißiger Zeitungsleser am Ende dieser Nachrichten-Achterbahn von der wirtschaftlichen Situation in Griechenland haben, außer dass er völlig verwirrt war? Hätte unser fiktiver Leser ein paar Wochen auf Zeitungen verzichtet, hätte er Geld gespart und mit Blick auf Griechenland kaum etwas verpasst.Griechenland ist seit Monaten ein herrliches Beispiel dafür, wie wenig Verlass auf wichtige Nachrichten in den Mainstream-Medien ist. Von Juli bis November 2014 konnte man in großen Zeitungen folgende Schlagzeilen und Dachzeilen über eine beginnende Erholung in dem Land lesen. Der Tagesspiegel meldete eine ›Rückkehr zum Wirtschaftswachstum‹. Die Zeit wusste am 1. August, ›Griechenland lässt Rezession hinter sich‹ . Und das Handelsblatt sah noch Ende November›Griechenland im Aufschwung‹. Griechenland mausere sich ›beim Wachstum von Europas Sorgenkind zum Klassenprimus‹. Kaum zu glauben: KLASSENPRIMUS. Denn dieselbe Zeitung überschrieb kaum vier Monate später, am 9. März 2015, einen Artikel mit dem Ökonomen-Zitat ›Ohne drittes Hilfspaket – Staatsbankrott‹. Zwischen dem drohenden Staatsbankrott und dem ›Aufschwung‹ lagen weniger als vier Monate.Ein erstaunlicher Absturz, der für ein ganzes Land in so kurzer Zeit kaum zu bewerkstelligen ist. Aber den Lesern wurde das so vermittelt. Die jüngste Runde der Euro-Krise im Juli 2015 mit der Einigung auf den Fahrplan für ein drittes Hilfspaket kam für diejenigen, die sich nur auf Mainstream-Zeitungen verließen – oder zwangsfinanziertes Fernsehen schauten – ziemlich überraschend. Der im Herbst 2014 so fleißig gepriesene griechische Aufschwung erwies sich jedenfalls als totale Falschinformation, die irgendwo zwischen einem reinen Lügenmärchen und einer gigantischen Fehl-Analyse anzusiedeln war.«
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