Dienstag, 29. September 2015

Russland kann alle Wirtschaftsprobleme aus eigener Kraft lösen

Russland kann alle Wirtschaftsprobleme aus eigener Kraft lösen

F. William Engdahl

Nach dem Frühjahr 2014 haben Washington und die EU Russland auf feindselige Weise und unberechtigt mit Finanz- und Wirtschaftssanktionen belegt. De facto stellen diese Schritte einen Finanzkrieg dar. Seitdem haben Präsident Putin und die russische Regierung mit zahlreichen lobenswerten und gelegentlich sogar brillanten Schachzügen reagiert.

Nicht angepackt wurden jedoch die grundlegenderen und weiter reichenden Störungen der russischen Wirtschaft und der russischen Währungsordnung. Kümmert sich die Regierung nicht bald darum, werden sich diese Punkte als Russlands Achillesferse erweisen. Glücklicherweise kann Russland jedoch schon jetzt aktiv werden und muss nicht warten, bis eine Alternativwährung zum US-Dollar zur Verfügung steht. Dafür ist nicht viel vonnöten, man muss die aktuelle Lage nur noch einmal gründlich durchdenken.

Wer bestimmt die Ausgabe und den Umlauf von Krediten und Geld? Und handeln diese Organe zum Allgemeinwohl oder dienen sie, entweder direkt oder indirekt, privaten Sonderinteressen? Die Antworten auf diese Fragen sind der Schlüssel zur russischen (oder jeder anderen) Wirtschaft.

Nachdem im November 1989 die Berliner Mauer fiel, erfasste Chaos die UdSSR. Im Juli 1990 bestand eine der ersten Amtshandlungen des »Demokraten« und Lieblings der westlichen Medien Boris Jelzin, dem neu gewählten Präsidenten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, in einer Änderung der russischen Verfassung. In Artikel 75 bestimmte er die Gründung der Zentralbank der russischen Föderation.

Der amerikanische Großinvestor George Soros hatte damals Jeffrey Sachs und den Schweden Anders Åslund angeschleppt. Sie sollten Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais, Jelzins Berater für die »Schocktherapie«, »anleiten«. Diese Truppe stürzte das Land in heilloses Durcheinander und ließ es, auch unter Druck durch den IWF, über weite Teile der 1990er-Jahre in wirtschaftlichem Chaos versinken. Renten wurden vernichtet, während die russische Nationalbank unter Führung von Viktor Geraschtschenko endlos wertlose Rubel druckte und eine gewaltige Hyperinflation bei den Preisen auslöste. Eine Handvoll russischer Geschäftsleute, die der Jelzin-Familie nahestanden, stieg zu unglaublich reichen Oligarchen auf, beispielsweise Michail Chodorkowski und Boris Beresowski. Der Rest der Bevölkerung dagegen überlebte gerade so.

Russlands Zentralbank Bank Rossii ist heutzutage Mitglied der vom Westen kontrollierten Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel. Die Verfassung erteilt der Bank Rossiiausdrücklich das Mandat, ein unabhängiges Organ zu sein, dessen Hauptverantwortung darin besteht, die Stabilität der Landeswährung, also des Rubels, zu gewährleisten. Gleichzeitig verfügt sie über das Exklusivrecht, in Rubel denominierte Geldscheine und Münzen auszugeben. Damit kann die Notenbank de facto über Leben und Tod der russischen Wirtschaft entscheiden.

Mit Artikel 75 gab die Russische Föderation im Prinzip die Souveränität über ihr wichtigstes Werkzeug aus der Hand – die Macht, Geld auszugeben und Kredit zu erschaffen.

Bis heute verfolgt das Präsident Putin, seine Regierung und das russische Volk. Der Finanzkrieg und die Sanktionen, die die USA Russland aufgezwungen haben, ließen der russischen Zentralbank keine andere Wahl: Im Dezember 2014 musste sie drei Mal die Leitzinsen auf zuletzt 17 Prozent erhöhen, um den galoppierenden Wechselkursverfall des Rubels zu stoppen. Inzwischen hat sich der Rubel zwar wieder deutlich stabilisiert, aber die Leitzinsen der Zentralbanken liegen noch immer bei heftigen elf Prozent.

Es ist egal, wie patriotisch die Person sein mag, die die russische Zentralbank leitet, es ändert nichts daran, dass die Bank nicht das politische Werkzeug eines souveränen Staats ist, sondern eine monetaristische Einrichtung. Wenn es um »Stabilität des Rubels« geht, dann ist die Stabilität gegenüber dem US-Dollar oder dem Euro gemeint. Das bedeutet, die unabhängige russischeNotenbank ist de facto eine Geisel des US-Dollars – alles andere als ideal angesichts der Tatsache, dass man sich de facto in einem Zustand befindet, der einem mit nicht-militärischen Mitteln geführten Krieg entspricht, geführt von der NATO, Obamas Finanzministerium, der CIA, dem Pentagon und den neokonservativen »Falken« in den USA.

Beim St. Petersburger Wirtschaftsforum im Juni 2015 erzählte mir ein recht hohes russisches Kabinettsmitglied, innerhalb der Regierung und unter Putins Beratern werde heftig debattiert. Es gehe darum, wieder eine staatliche Nationalbank ins Leben zu rufen im Gegensatz zur unabhängigen, nach dem BIZ-Modell aufgebauten Zentralbank, die der Westen Russland 1990 aufgezwungen hatte.

Nationale Entwicklungsanleihen

Noch ist es nicht so weit, noch ist dieser ausgesprochen positive und notwendige Schritt nicht getan, der dem Staat die Macht über sein Geld und seine Kredite zurückgeben würde. Doch bis dahin kann Russland noch etwas anderes tun – etwas in seiner Einfachheit sehr Elegantes, für das keine direkte Alternative zum Dollar-System vonnöten ist. Auf diese Weise kann das Kapital zusammenkommen, das für die immer noch gewaltige Aufgabe benötigt wird, Russlands Wirtschaftsinfrastruktur neu aufzubauen, von Wladiwostok bis nach Rostow am Don, von Murmansk bis nach Omsk, von Jekaterinburg nach Moskau und darüber hinaus. Das Kapital würde aus Russland selbst kommen, und zwar dank der staatlich unterstützten Anleihen der »Russischen Nationalen Entwicklungsbehörde« und den persönlichen Ersparnissen der russischen Bürger. Der Name der Behörde ist nur ein Arbeitstitel und letztlich auch egal; worauf es ankommt, ist der Inhalt. Wie könnte das funktionieren?

Die Duma würde der Schaffung einer zu 100 Prozent in Staatsbesitz befindlichen Sonderbehörde zustimmen, die die volle Unterstützung und den Kredit des russischen Staats genießt, aber eigenständig vom russischen Finanzministerium betrieben würde.

Jetzt kommt der Knackpunkt: Die »Russische Nationale Entwicklungsbehörde« würde Anleihen für den Aufbau der nationalen Infrastruktur ausgeben, und zwar direkt von Regierungsseite, unter der Aufsicht des russischen Finanzministeriums stehend und nicht über die unabhängige Bank Rossiioder über Handelsbanken. Die Infrastruktur-Anleihen würden nicht an private, Zinsen berechnende, Anforderungen zur Mindestkapitalanlage unterliegende Geldinstitute verkauft, sondern direkt an die Bürgerinnen und Bürger. Es wäre eine »Volksanleihe«, wenn man so will.

Die spezielle, unter dem Dach des Finanzministeriums aufgehängte »Russische Nationale Entwicklungsbehörde« würde langfristige Anleihen ausgeben, mit fünf, zehn, 20 und 30 Jahren Laufzeit, und eine jährliche Verzinsung bieten, die für gewöhnliche russische Bürger attraktiv ist, beispielsweise sechs bis acht Prozent jährlich, vorausgesetzt, dass sich die Inflation auf einem darunterliegenden Niveau einpendelt. Allein schon die Gründung dieser Behörde wird spürbar zur Reduzierung der derzeitigen Inflationsrate beitragen. Produktive Investitionen in dieWirtschaftsinfrastruktur wirken antiinflationär. Sie steigern den Umlauf von Industriegütern und erschaffen produktive Arbeitsplätze, und zwar in direkter Relation zu den Mitteln, die die Infrastruktur-Behörde einnimmt und verteilt. Ein weiterer Anreiz, zu investieren: Die jährlich ausgeschütteten Zinsen sowie die endgültige Kapitalanlage wären steuerfrei. Die Kapitalanlage würde nach Ende der Laufzeit dem Bürger in voller Höhe zurückgezahlt.

Die Anleihen würden nicht über Privatbanken verkauft, sondern durch das russische Postsystem. Das würde den kostspieligen und riskanten Anleihehandel der Privatbanken auf dem Zweitmarkt eliminieren. Damit dieser Weg funktionieren kann, muss die Post weiterhin in staatlicher Hand bleiben. Hilfreich wäre ein Aufsichtsgremium, in dem Bürger höchsten Ansehens und höchster Integrität sitzen. Das würde das Vertrauen der Menschen in die neue Institution erhöhen.

Wie würde die Methode nun genau laufen: Sagen wir, ein gewöhnlicher russischer Arbeiter oder Angestellter geht zu seiner örtlichen Postfiliale. Dort kann er die Sonder-Entwicklungsanleihe kaufen. Als Wert nehmen wir 100 000 Rubel an, nach heutigem Stand etwa 1360 Euro, die Verzinsung liegt bei acht Prozent jährlich. Das bedeutet, er würde zehn Jahre lang jährlich 8000 Rubel an steuerfreiem Einkommen bekommen und am Ende der Laufzeit die volle Summe von 100 000 Rubeln. Das wären dann insgesamt 180 000 Rubel, alles völlig steuerfrei. Rund um uns herum verbrennen die Aktienmärkte Tausende Milliarden Dollar und Wechselkurse schwanken wie wild. Russlands staatlich garantierte Infrastruktur-Anleihen wären in einem derartigen Umfeld eine Insel der Stabilität. Sie böten Schutz vor diesen im Ausland tobenden Stürmen und würden dem Land echtes und wichtiges Wirtschaftswachstum bescheren.

Im Laufe der zehn Jahre schreibt die Regierung spezielle nationale Infrastrukturprojekte aus, etwa die Modernisierung des Stromnetzes oder den Bau eines landesweiten Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes nach chinesischem Vorbild. Diese Projekte würden Hunderttausenden Menschen gut bezahlte Facharbeiterstellen bescheren. Sie wiederum würden für ihren Beitrag beim Aufbau des neuen Russlands ganz normale Einkommenssteuern auf ihrenVerdienst bezahlen. Das wiederum würde es der russischen Regierung ermöglichen, ihre Bedürfnisse zu finanzieren, und zwar unabhängig von finanziellen Sanktionen des Westens und davon, ob man Zugang zu Krediten aus dem Westen hat.

Das wenig bekannte Geheimnis

Investitionen in Infrastrukturprojekte haben ein kleines Geheimnis. Die EU und die USA pumpen viel Steuergeld in unnötige Projekte. Wenn dagegen etwas gebaut wird wie ein Schienennetz für Hochgeschwindigkeitszüge, etwas, das für die Wirtschaftsinfrastruktur notwendig ist und das dazu führt, dass das Blut in den Arterien der nationalen und internationalen Wirtschaft schneller und effizienter zirkuliert, dann bringt ein solches Infrastrukturprojekt vielfachen wirtschaftlichen Nutzen für die Gesamtwirtschaft. Das ist das lang vergessene »Geheimnis« der Infrastruktur-Investitionen. Amerika hat das während der Weltwirtschaftskrise herausgefunden. Damals gab die Regierung Anleihen aus, damit die Tennessee Valley Authoritygewaltige Wasserkraftprojekte anschieben konnte.

In den 1960er-Jahren investierte Amerika noch in seine nationale Infrastruktur. Diverse Studien aus dieser Zeit kamen zu dem Schluss, dass der Staat für jeden Dollar, den er in wichtige Infrastrukturprojekte investierte, ungefähr elf Dollar in neuen Steuereinnahmen zurückerhielt. Und das ist das Geheimnis gut durchdachter Infrastrukturausgaben.

Graf Sergei Witte wusste, wie wichtig die nationale Transportinfrastruktur dafür ist, die russische Nation aufzubauen und zu modernisieren. Der Graf, zunächst Eisenbahnminister, später auch Finanzminister unter Zar Nikolaus II., ist der Vater der Transsibirischen Eisenbahn. Das gewaltige Bauvorhaben versetzte England seinerzeit in großes Unbehagen, weil es die Dominanz der Royal Navy auf den Weltmeeren gefährdete.

Im vergangenen Jahrhundert kämpften die Briten und später die Vereinigten Staaten an der Seite der Briten in zwei Weltkriegen darum, die Weiterentwicklung ähnlicher Eisenbahnverbindungen durch das »eurasische Herzland«, wie es der britische Geograf Halford Mackinder nannte, zu verhindern. Heute tun sich China und Russland genau zu diesem Zweck zusammen. Der Aufbau einer »Russischen Nationalen Entwicklungsbehörde« ermöglicht es Russland, seinen Teil zu maximieren, was diese Revolution innerhalb der Weltwirtschaft, der globalen geopolitischenBeziehungen und der kulturellen Beziehungen anbelangt.

Dass die Bürger die Anleihen direkt kaufen können, bedeutet für den russischen Staat, dass er sich für seinen Kapitalbedarf nicht an die ausländischen Märkte wenden muss, nicht einmal an ihm wohlgesonnene wie den chinesischen Kapitalmarkt. Die Bürde ausländischer Schulden wird so vermieden.

Es hängt letztlich davon ab, wie der Erwerb nationaler Infrastruktur-Anleihen der Bevölkerung verkauft wird, aber in der derzeitigen Krise könnte sich dieses Angebot rasch zu einem Symbol des Patriotismus und des persönlichen Beitrags zu einer glorreichen Zukunft Russlands entwickeln. Zu einem späteren Zeitpunkt werde ich auch noch einmal den grundlegenden Vorteil diskutieren, den eine staatliche Nationalbank gegenüber einer unabhängigen Zentralbank aufweist.

Alles, was ein Land benötigt, um seiner Bevölkerung eine neue Welt der Stabilität und des Wohlstands aufzubauen und um zu einem Vorbild für andere Nationen aufzusteigen, besitzt Russland im Übermaß, auch wenn das heute noch etwas weit hergeholt klingen mag. Russland besitzt den Charakter und, wie die unerbittlichen Sanktionen und Attacken der vergangenen Monate gezeigt haben, die moralische Entschlossenheit. Russland besitzt möglicherweise die am besten ausgebildeten Wissenschaftler der Welt und sehr gute Facharbeiter. Das Land hat mehr als reichlich Bodenschätze vorzuweisen. Jetzt müssen nur noch die Ströme an Waren und Menschen in die richtige Richtung gelenkt werden. Interessanterweise haben die westlichen Finanzinstitutionen 1990 so etwas nicht empfohlen. Damals zwangen sie dem am Boden liegenden Russland lieber eine unabhängige Zentralbank nach amerikanischem Vorbild und an den Dollar gekoppelt auf.






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